Justiz und Erbgesundheit - Vorgeschichte, Entwicklung, Tätigkeit und Auswirkungen der nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichtsbarkeit

Justiz und Erbgesundheit - Vorgeschichte, Entwicklung, Tätigkeit und Auswirkungen der nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichtsbarkeit

Veranstalter
Dokumentations- und Forschungsstelle "Justiz und Nationalsozialismus" an der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Helia-Verena Daubach
Veranstaltungsort
Justizakademie, Gustav-Heinemann-Haus, August-Schmidt-Ring 20, 45665 Recklinghausen
Ort
Recklinghausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.12.2006 - 08.12.2006
Deadline
31.05.2006
Website
Von
Helia-Verena Daubach

Als am 01.01.1934 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14.07.1933 in Kraft trat, konnte die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches auf eine rund sechzigjährige „Vorgeschichte“ zurückblicken. Bei der Durchführung und Umsetzung der Vorstellungen des NS-Regimes vom „neuen Menschen“ griff das nationalsozialistische Regime auf eine Institution mit ebenfalls langer Tradition zurück: die Justiz.

Zur Rassepolitik des Dritten Reiches, zur Geschichte von Eugenik und Rassenhygiene in Europa und Deutschland, zur Praxis der Zwangssterilisationen und zur „Euthanasie“ sind in den letzten zwei Jahrzehnten eine Fülle von Untersuchungen unterschiedlicher Fachrichtungen erschienen. Trotzdem fehlt es an Untersuchungen zur Erbgesundheitsgerichtsbarkeit als solcher, obwohl anzunehmen ist, dass diese sowohl quantitativ als auch qualitativ einen maßgeblichen Anteil an der Umsetzung der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik hatte. Nicht nur gab es für – fast – jeden Landgerichtsbezirk des Altreichs (und später der annektierten Gebiete) ein am Amtsgericht funktional angesiedeltes Erbgesundheitsgericht, nicht nur sind die heute als einigermaßen gesichert geltenden Opferzahlen enorm, sondern durch ihre legitimierende und das Gemeinwesen stabilisierende Funktion dürften die Erbgesundheitsgerichte auch dazu beigetragen haben, Zwangssterilisationen in den Bereich rechtlicher und damit gesellschaftlicher Normalität zu holen. Schon die Anzahl der Erbgesundheitsgerichte (für Nordrhein-Westfalen allein gab es 1936 21 Erbgesundheitsgerichte) spricht dafür, dass ein erheblicher Teil der Richter an Zwangssterilisationsverfahren beteiligt war, selbst wenn man davon ausgeht, dass jeweils nur einige Dezernenten am entsprechenden Amtsgericht, an kleineren vielleicht auch nur ein einziger Dezernent, zugleich funktional Erbgesundheitsgericht „war“. Eine „Blutrichterkampagne“, die gelegentlich die Nachkriegskarrieren ihrer Kollegen von den Sondergerichten, Militärgerichten und beim Volksgerichtshof für Momente ins Wanken gebracht haben mag, hat es für die Erbgesundheitsrichter des Dritten Reiches nicht gegeben. Bis heute ist auch in Justizkreisen allein das Vorhandensein einer solchen Erbgesundheitsgerichtsbarkeit relativ unbekannt. Da es bisher nur einige wenige systematische Einzeluntersuchungen zu Erbgesundheitsgerichten gibt, fehlt es an Vergleichsmaterial, das einem Überblick zugänglich wäre. Beispielhaft seien die Arbeiten von Ganssmüller, Ehlers und Vossen, neueren Datums Einhaus, Birk, Hinz-Wessels, Braß, Koch und Link genannt, die allerdings überwiegend keinen justizspezifischen Fokus haben.

Damit ist nicht nur ein großer Teil der Erbgesundheitsgerichte noch nicht untersucht, sondern wesentliche Fragen und Aspekte der nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichtsbarkeit sind nicht hinreichend erforscht: - Herkunft, Sozialisation und Selbstverständnis der „Erbgesundheitsrichter“;
- Auswahlmechanismen innerhalb der Justiz, die dazu führten, dass ein Richter am Amtsgericht den Vorsitz eines Erbgesundheitsgerichts erhielt;
- Verhältnis und Zusammenarbeit der juristischen Mitglieder mit den ärztlichen Beisitzern;
- Mechanismen der „Selektion“ der zu Sterilisierenden und welche – lenkende – Rolle möglicherweise hierbei die Richter spielten;
- Rolle und Funktionieren der Erbgesundheitsgerichte im Gesamtgefüge der mit der Rassenhygiene befassten Institutionen des Dritten Reiches.

Weitgehend unerforscht sind weiterhin die Kontinuitäten und Diskontinuitäten nach 1945, der Verbleib der Erbgesundheitsrichter in ihren Planstellen, der mögliche Einfluss solcher Kontinuitäten auf die Rechtsprechung nach 1945 (z.B. Anwendung und Auslegung von § 1905 BGB). Schließlich die Rolle vormaliger Erbgesundheitsrichter und Gutachter bei der Entschädigungsgesetzgebung zur faktischen Nichtrehabilitation der Opfer bis zur – unzureichenden – Entschädigung durch die „Regelung für Zwangssterilisierte vom 03.10.1980“ und die Folgeregelungen bis 1998.

Die Tagung will versuchen, Entwicklungslinien der eugenischen und rassenhygienischen Diskussion bis 1933 nachzuzeichnen, Aufbau, Funktion, Besetzung und Rolle Erbgesundheitsgerichte im Gesamtsystem darzustellen, Selbstverständnis und „Rekrutierungsmechanismen“ ihres richterlichen Personals zu beleuchten, und zu thematisieren, wie die Richter die nationalsozialistisch aufgeladenen Begriffe „Rassereinheit“, „Volksgesundheit“, „Erbreinheit“ und dergleichen juristisch handhabbar machten und dogmatisch verankerten, welche Argumentationsmuster sie hierbei entwickelten – mit anderen Worten, wie sie ihr juristisches Handwerkszeug auf dem Gebiet der Erbgesundheit anwendeten. Da hier das Zusammenspiel mit der medizinischen Profession besonders deutlich in das Blickfeld tritt, ist es ein Anliegen der Tagung, die genannten Themen auch interdisziplinär zu erarbeiten.

Referatsvorschläge können daher folgende Themenbereiche beinhalten:

I. Vorgeschichte, Entwicklung und Vorbilder eugenischen Denkens bis 1933
Hierunter fallen zum Beispiel Beiträge und Forschungen zu folgenden Themen: Entwicklung des eugenischen Denkens in Europa und Deutschland, Beratungen und Entstehungsgeschichte eines „Sterilisationsgesetzes“, wobei hier auch die Frage interessant sein könnte, ob und ggf. wie sich zwischen den medizinischen und juristischen "Protagonisten" bereits vor 1933 Netzwerke bildeten, die nach 1933 nur "aktiviert" zu werden brauchten;

II. Praxis der Erbgesundheitspolitik, Praxis der Erbgesundheitsgerichtsbarkeit 1934-1945 (1939)
Von Interesse sind Referate, die sich mit der Besetzung und Rekrutierung für die Erbgesundheitsgerichte befassen, ihrer Arbeitsweise und „Tätigkeitsbilanz“, mit dem Selbstverständnis der Richter, ihrem Werdegang vor 1933 und nach 1945. Ebenfalls hierunter fallen Referate, die sich mit der Argumentationsweise und „Subsumtionstätigkeit“ der juristischen Mitglieder befassen, zum Beispiel dokumentiert durch erhaltene Entscheidungen, Entscheidungsbesprechungen und Veröffentlichungen in JW, ZW, DRiZ, DR, aber auch durch den „Lenkungskommentar“ von Gütt/Rüdin/Ruttke. Denkbar ist zudem eine inhaltliche Erweiterung, beispielsweise durch Beiträge zum Institut für Erb- und Rassenpfleger der Universität Gießen und der juristischen und medizinischen Fakultäten der „SS-Uni“ Jena in den Jahren 1933-45.

III. Auswirkungen, Folgen, Nachwirkungen
Hier stellt sich die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten bei den richterlichen wie nichtrichterlichen Mitgliedern der Erbgesundheitsgerichte: Wie verlief die Karriere der Mediziner weiter, wo kamen sie unter? Gab es Karrierebrüche bei den Amtsrichtern, waren sie an namhaften Kommentaren und Gesetzgebungsvorhaben der Nachkriegszeit zu §§ 1905ff BGB beteiligt, wo lag ihr zukünftiges Tätigkeitsgebiet? Problematisiert werden könnte hier ebenfalls die Nichtaufhebung des „Gesetzes zur Verhütung...“ durch die Kontrollratsgesetze und die Behandlung der Opfer der Erbgesundheitsgerichte im Rahmen der Entschädigungsrechtsprechung – und -praxis.

IV. Erbgesundheit im postmodernen Staat?
Hierunter könnten Referate zu folgenden Themen von Interesse sein: § 1905ff BGB, Entstehungsgeschichte, Praxis und Judikatur, Entwicklung der „Eugenik“-Debatte in Westdeutschland und der ehemaligen DDR nach 1945, Referate zum Thema „Von der Eugenik zur Humangenetik“ und „Genetic Engeneering“ und neue Eugenik?“;

Interessenten werden gebeten, bis zum 31. Mai 2006 ein maximal zweiseitiges Abstract ihres geplanten Vortrages, der auf maximal 45 Minuten beschränkt sein soll, sowie eine Kurzbiographie unter dem Stichwort „Tagung: Dezember 2006“ an die Dokumentationsstelle zu senden. Die Dokumentationsstelle ermutigt insbesondere NachwuchswissenschaftlerInnen zur Teilnahme!

Eine Veröffentlichung der Teilnehmerbeiträge in einem Sammelband im Rahmen der vom Justizministerium in Zusammenarbeit mit der Dokumentationsstelle herausgegebenen Schriftenreihe „Juristische Zeitgeschichte NRW“ ist geplant. Die Reisekosten werden in angemessener Höhe (Deutsche Bahn, 2. Klasse) übernommen. Die Referenten werden auf Wunsch während der Tagung in der Justizakademie auf Kosten der Dokumentationsstelle untergebracht.

Programm

Kontakt

Helia-Verena Daubach

Dokumentationsstelle "Justiz und Nationalsozialismus"
Justizakademie
August-Schmidt-Ring 20
45665 Recklinghausen

02361 481 202
02361 481 141
helia-verena.daubach@jak.nrw.de


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